16.12.2012

Hallo zusammen,


wusstet ihr, dass Kreißsaal auf Englisch tatsächlich „delivery room“ heißt? Ich nicht. Und ich habe die gesamte letzte Woche gebraucht, um mich an diesen Ausdruck zu gewöhnen. Da ich diese fast nur im Kreißsaal verbracht habe, hatte ich dazu zumindest genügend Zeit. Das Krankenhaus ist im Umkreis von mehreren hundert Kilometern für seine gynäkologische Arbeit bekannt, dementsprechend kommen die Frauen von weit her, um hier ihre Kinder zu gebären.  Oft schlafen sie noch mehrere Nächte irgendwo auf dem Boden oder wenn sie Glück haben in einem freien Bett, während sie darauf warten, dass die Wehen einsetzen. Der Kreißsaal selbst hat vier Betten und einen Vorraum mit ein paar Ersatzliegen, falls mal viel los ist. Es gibt zwar Vorhänge zwischen den einzelnen Liegen, die sind aber immer um die Vorhangstangen geknotet, damit sie nicht im Weg sind. Allerdings sind im Kreißsaal außer den Ärzten auch nie Männer. Die schwangeren Frauen werden meistens von ihren Müttern, Schwiegermüttern oder Schwestern begleitet und so scheint die fehlende Privatsphäre hier für alle zumindest annehmbar zu sein. Bei so vielen Geburten dabei sein zu können war für mich eine tolle Erfahrung, auch wenn es wirklich nicht immer angenehm war. Da man hier nicht allzu lange wartet, dass das Kind von alleine kommt, wird bei fast jeder Frau ein recht großzügiger Dammschnitt gemacht. Dann drückt man so lange auf dem Bauch herum, bis das Kind endlich kommt. An den etwas herben Umgangston gewöhne ich mich langsam, zumindest finde ich ihn nicht mehr so erschreckend wie am Anfang. „If you don´t shout at them, they will not deliver nicely“, hat mir eine Krankenschwester erklärt. Doch es gibt auch immer wieder Situationen, mit denen ich nach wie vor nur schwer zurechtkomme. Die schlimmste Situation, die ich im Kreißsaal erlebt habe, war das Nähen einer Epiostomie ohne Anästhetikum. Als die Krankenschwester das Lokalanästhetikum spritzen wollt, ist das Mädchen, das gerade man 16 war, zusammengezuckt und hat laut aufgeschrien. Genervt hat die Krankenschwester die Spritze auf den Boden geworfen und den Schnitt so zugenäht. Die Patientin hat gewimmert und geschrien und geweint, alle Schwestern standen da und haben zugesehen und offensichtlich fand es jeder in Ordnung. Die Minuten schlichen vor sich hin wie Stunden und ich stand da und war genauso ratlos und hilflos und wütend wie am Anfang.

Aber ich hatte auch sehr schöne Momente im Kreißsaal. Die letzte Geburt, zum Glück eine der wenigen, die keine Epiostomie gebraucht hatten, durfte ich fast alleine begleiten. Natürlich stand eine Krankenschwester neben mir und hat mir genau gesagt, was ich tun soll und im Zweifelsfall auch mal mitgeholfen, aber ich habe mich schon fast wie eine Hebamme gefühlt. Das schwierigste an der ganzen Sache war, das Neugborene von der Liege in den Babyraum zu bringen, da man die Kinder hier an den Beinen fasst und kopfüber trägt. Ich hätte nie gedacht, dass die Kleinen so glitschig sind. Auf jeden Fall war es eine tolle Erfahrung, für die ich den Schwestern sehr dankbar bin.

Die Geburten werden hier fast ausschließlich von Krankenschwestern begleitet, Ärzte werden nur bei Komplikationen hinzugerufen. Bis im Ernstfall ein Arzt kommt dauert es keine zwei Minuten, und ein Kaiserschnitt kann in weiteren drei Minuten vorbereitet werden. Das ist sicher einer der Gründe für den guten Ruf des Krankenhauses, im Vergleich zu anderen Häusern ist hier viel möglich und vor allem schnell.

Nirgends wird so viel geputzt wie im Kreißsaal















Die Handschuhe werden zum Trocknen aufgehängt und regelmäßig umgedreht


















Ein Thema mit dem man hier zwangsläufig konfrontiert wird, ist die immer noch sehr unterschiedliche Wertschätzung von männlichen und weiblichen Nachkommen. Es gab selten eine Mutter, der man es nicht schon am Gesicht angesehen hat, ob sie gerade einen Jungen oder ein Mädchen zur Welt gebracht hat. Die Geburt eines Jungen ist für die ganze Familie Anlass zu großer Freude, während die Frauen ihre gerade geborenen Töchter oft kaum sehen wollen. Sie sind enttäuscht und oft haben sie Angst vor der Reaktion der Schwiegermutter. Da es vor allem in ländlichen Gebieten nach wie vor Brauch ist, die Tochter mit einer ordentlichen Mitgift auszustatten, bedeutet eine Tochter immer eine finanzielle Belastung. Zudem ziehen die Frauen traditionell zu der Familie ihres Ehemannes, somit hat sie später für ihre eigene Familie auch als Arbeitskraft keinen Nutzen mehr. Dass es diese Umstände den Familien, die arm und auf Unterstützung bei der Feldarbeit angewiesen sind, erschweren, sich über die Geburt einer Tochter zu freuen, ist leicht nachvollziehbar, auch wenn es von unserem Standpunkt aus natürlich grausam erscheint. Mitgiftmorde sind in Indien leider immer noch keine Seltenheit, man hört immer wieder Geschichten von Frauen, die von ihren Schwiegereltern mit Kerosin übergossen und verbrannt werden oder auf andere Art zu Tode gequält und gefoltert werden. Wenn man sich das vor Augen führt erscheinen die hohen Raten versuchter Abtreibungen von weiblichen Föten fast wie eine logische Konsequenz. Das Krankenhaus ist gepflastert mit Schildern wie „Sex determination is not done here“, jeder Arzt, der eine Sonografie vornimmt, muss unterschreiben, dass er der Schwangeren auf keiner Weise zu verstehen gegeben hat, welches Geschlecht ihr Baby hat und doch ändern all diese Maßnahmen und Vorschriften nichts an den bestehenden Traditionen.


Als ich am Freitag wieder im OP war, kam die Anästhesieschwester mit einem kleinen deutschen Buch über Methoden zur Regionalanästhesie zu mir. Da sie einige Jahre in Deutschland verbracht hat, spricht sie etwas deutsch, und das Buch hatte sie von einem Arzt geschenkt bekommen. Sie bat mich, ihr einige Teile davon zu übersetzen, was ich natürlich gerne tat, wenn auch eher etwas laienhaft. Immerhin ist weder mein Fachenglisch so gut, noch besitze ich so tiefgehende Kenntnisse über Anästhesie als dass ich der Aufgabe wirklich gewachsen gewesen wäre. Aber die Schwester war ausgesprochen zufrieden. Als wir fertig waren, hat sie sich bedankt und gesagt, dass sie diese Methoden alle demnächst mal ausprobieren wolle. Da war ich dann doch kurz irritiert. Ausprobieren – an wem denn? Blöde Frage, natürlich am nächsten Patienten. Da sie sich nichts von dem was ich gesagt habe, aufgeschrieben hat und die Bilder in dem Buch zwar gut aber doch eher schematisch sind, zweifle ich etwas am Erfolg dieses Unterfangens. Und ich bin hin- und hergerissen, ob ich es wahnsinnig oder mutig finden soll. Immerhin hat sie insofern Recht, als dass ihr kaum andere Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Fortbildungen wie in Deutschland gibt es hier nicht, ausprobieren ist fast die einzige Chance, um weiterzukommen. Ich musste kurz daran denken, wie wir im letzten Jahr für die PflegeschülerInnen des Unterkurses einen Lernzirkel zur Grundpflege angeboten haben. An verschiedenen Stationen konnten sie Pflege nach Leitlinie ausprobieren und üben. Wir hatten das Thema Mundpflege und eine der neuen Schülerinnen sagte, sie habe jetzt schon Angst davor, jemandem die Zähne putzen zu müssen und werde sicher alles falsch machen. Klingt erst mal übertrieben und lächerlich, aber ich glaube auch, dass man bei uns im Bestreben, uns für die Wichtigkeit der korrekten Durchführung aller Maßnahmen zu sensibilisieren, manchmal zu weit geht. Spätestens wenn Auszubildende Angst haben, den Patienten durch nicht leitliniengerechte Mundpflege nachhaltig geschadet zu haben, hat man in der Hinsicht wohl über die Stränge geschlagen. Auf jeden Fall standen diese zwei Situationen wie schon so oft in krassem Gegensatz zueinander.


Heute Morgen war ich das erste Mal auf dem Markt. Zunächst war ich etwas enttäuscht. Da saßen einfach nur ein paar Männer und Frauen mit ihren Waren am Straßenrand und haben gelangweilt geguckt. Das hatte ich mir irgendwie lebendiger vorgestellt. Aber zum Glück war das auch erst der Anfang. Eine kleine Seitenstraße führte uns zu einem riesigen Platz, auf dem hunderte von Händlern um die Aufmerksamkeit der Käufer gekämpft haben. Ein kunterbuntes Durcheinander von Obst, Gemüse, Gewürzen, Süßigkeiten, Fleisch und getrocknetem Fisch, zwischendrin einfache Haushaltsgeräte und Schmuck, alles auf großen Tüchern auf dem Boden ausgebreitet. Hier wurde gefeilscht was das Zeug hält, aber wenn man sich erst mal geeinigt hatte, waren schnell alle Streitereien und harten Worte vergessen. 
























 














Heute Nachmittag war die “Lamp Lighting Ceremony“ der Schwesternschülerinnen. Einige haben ihre zweijährige Ausbildung beendet und müssen noch sechs Monate im Krankenhaus praktische Erfahrungen sammeln, bis sie sich als Krankenschwestern bezeichnen dürfen, die anderen sind ins zweite Ausbildungsjahr gekommen. Es wurden zahlreiche Preise verliehen, für die beste Schülerin, die höflichste, die mit dem meisten Verantwortungsbewusstsein und die mit dem größten Engagement für ihre Mitschülerinnen. Die Preise wurden von den Ordensschwestern übergeben, viele der Schülerinnen haben sich, nachdem sie ihre Preise entgegengenommen haben, noch kurz heruntergebeugt, um die Füße der Schwester zu berühren und sich dann zu bekreuzigen. Es wurden viele Reden gehalten, von denen ich nur immer wieder „Florence Nightingale“ verstanden habe und in einem feierlichen Akt haben alle Krankenschwestern und –pfleger eine Kerze angezündet und einen Schwur geleistet. Ich musste zwar mitschwören, aber da ich auf Marathi geschworen habe weiß ich immer noch nicht so genau, um was es ging. Im Groben ging es wohl darum, dass wir unsere Arbeit vernünftig machen und das kann ich ja verantworten. Auf jeden Fall war es eine recht kurzweilige Veranstaltung, aber vielleicht habe ich auch einfach mittlerweile realistischere Erwartungen an derartige Festlichkeiten.



Schülerinnen bei der Lamp Lighting Ceremony
Schülerin mit festlichem Schmuck
 
Mittlerweile freue ich mich sehr darauf, bald Richtung Süden loszuziehen. Ich bin zwar gerne hier und die Schwestern geben sich wirklich Mühe, aber viel Abwechslung bietet Klosterleben nun mal nicht. Da ich mich in die religiösen Aktivitäten nur sehr sporadisch einbringe und die gesamte Freizeit praktisch aus religiösen Veranstaltungen besteht, beschränkt sich unser Zusammentreffen auf die Arbeit und die Essenszeiten. Ich fühle mich hier willkommen, aber meine Anwesenheit hier wird auch nicht überbewertet, was mir ja auch nicht unrecht ist. Ich freue mich, hier noch eine Woche zu verbringen und dann ist es auch wieder Zeit zu gehen und andere Seiten von Indien zu entdecken.


Ich werde gegen Ende der Woche noch von meinen letzten Tagen hier erzählen, bis dahin wünsche ich euch eine schöne Zeit zu Hause!

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